Es ging fast ausschließlich um das Thema Inklusion und darum, wie denn nun, da die UN-Behindertenrechtskonvention von Deutschland ratifiziert wurde, die Schule der Zukunft für unsere Kinder aussehen soll. Die Antwort auf die übergeordnete Fragestellung der Tagung: Inklusion, ein neues Ziel? war relativ gleich lautend: Ja, aber. Denn die UN-Behindertenrechtskonvention verbirgt in ihrer Lesart die Gefahr, dass die Sonderschule bzw. Förderschule künftig abgeschafft werden könnte. Dagegen wurden berechtige Einwände artikuliert.
Der erste kam von Professor Manfred Hintermair von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der dort den Lehrstuhl Psychologie in der Fachrichtung Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik leitet. Ob ein pädagogischer Ansatz Inklusion, Integration, Separation oder Segregation heiße, wäre zunächst unerheblich. Viel wichtiger sei, bei hörgeschädigten Kindern (ebenso wie bei hörenden!), dass die Bereiche Identität und Kognition vorrangig gefördert werden, und zwar von allen, die dafür verantwortlich sind: Von der Familie ebenso wie später von Freunden und Pädagogen. Prof. Hintermair gab zu bedenken, dass die Bedürfnisse hörgeschädigter Kinder im Rahmen einer Inklusion untergehen könnten. Der Grund: Die kleine Gruppe der Menschen mit einer Hörbehinderung ist zusätzlich heterogen und in ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich. Alle pädagogischen Konzepte müssten diese Tatsache und die Konsequenz daraus für das Lernen und die geistige Entwicklung der Kinder berücksichtigen. Das ist schwer. Er schloss seinen Vortrag mit der Vorstellung von Inklusion als Mobile auszubalancierender Fähigkeiten: Unterstützung und Eigenaktivität. Aufeinanderzugehen und Abgrenzung. Gemeinsamkeiten entdecken und Unterschiede pflegen. Verstehen und Verstanden werden. Und all das mit dem Ergebnis, dass die Unterschiede als positiv wahrgenommen werden.
Das Interesse an Hintermairs Vortrag war groß und die Fragen, Wünsche und Anregungen an seine Adresse zahlreich. Durch die Lande ziehen solle er und möglichst überall an Schulen und Frühförderstellen seine Thesen vortragen. Wer auf seiner Website www.ph-heidelberg.de/wp/hinterma/ nachliest, sieht, dass er schon in der Vergangenheit ziemlich fleißig war... Wer von den Tagungsteilnehmern seinen Vortrag noch einmal nachlesen möchte, kann sich gerne an Katja Belz wenden.
Der Vortrag von Markus Fertig war am authentischsten: Klar, er ist selbst gehörlos und dazu noch Lehrer
Hochgeschätzt unter den Teilnehmern war der zweite Vortrag von Markus Fertig, selbst gehörlos und Fachlehrer am Hör- und Sprachzentrum in Neckargemünd. Auch er argumentierte mit einem Ja, aber... für die Inklusion. An Regelschulen müsste das so aussehen: Hörgeschädigte und hörende Kinder und Jugendliche müssten zusammen in kleinen Gruppen unterrichtet werden, wobei es pro Lerngruppe mehrere gehörlose Kinder geben muss, um ihnen ihre soziale und emotionale Identifikation zu erleichtern. DGS müsste als Unterrichtsfach im Lehrplan stehen. Die Lehrer müssten DGS beherrschen, DGS-Kurse für Eltern müssten angeboten werden und sämtliche notwendigen technischen Hilfsmittel und Medien vorhanden sein. Dazu müsste es eine Kooperation mit unterschiedlichen Gehörlosen-Vereinen geben. Inklusion bedeutet für ihn aber nicht die Abschaffung der Förderzentren, doch hier muss sich die Qualität gravierend verbessern. Dazu gehört die Einführung von bilingualem Unterricht, ein höheres Bildungsniveau und eine Kooperation mit Regelschulen, um auch zu hörenden Gleichaltrigen Kontakte knüpfen zu können. Gut, dass Markus Fertig mit 29 anderen gehörlosen Pädagogen aus ganz Deutschland gemeinsam in einer AG sitzt, die solche Zielvorstellungen dann auch an höhere Stellen weitergibt. Denn auch seine Erfahrung zeigt, dass Kinder an den Hörgeschädigtenschulen auch heute noch oftmals nicht altersgemäß kognitiv und emotional entwickelt sind. Daran muss sich so schnell wie möglich etwas ändern.
Die „Fachleute“ zum Thema Schule stellten sich den Eltern - und kamen nicht ohne Hausaufgaben davon
Wie schnell oder auch nicht sich etwas ändern kann wurde einmal mehr in der anschließenden Podiumsdiskussion deutlich, zu der, man glaubt es kaum, die Direktoren der Hörgeschädigtenschulen in Baden Württemberg kamen und dem oftmals sehr ungehaltenen Publikum Rede und Antwort standen. Leider wurde von einigen Damen und Herren sehr viel geredet und wenig gesagt und noch weniger konkret beantwortet.
Professor Dr. Klaus B. Günther, der mittlerweile nach Hamburg in Berlin das zweite bilinguale Schulprojekt begleitet, war da eine Ausnahme. Richtig zur Rechenschaft zogen die Eltern Christiane Stöppler, die Direktorin der Lindenparkschule in Heilbronn und Karl-Heinz Pferdekämper vom Hörsprachzentrum in Neckargemünd. Letzterer verwies bezeichnenderweise auf die Frage, wie viele Lehrer an seiner Schule DGS-kompetent sind auf Markus Fertig, da er das selbst nicht beurteilen könne. Die beiden Verantwortlichen argumentierten immer und immer wieder mit vorhandenen Bildungsplänen, noch anstehenden Verhandlungen und letztlich wenig Entscheidungsbefugnissen, wenn die Eltern nach einer schnelleren Verbesserung der Schulsituation fragten. Natürlich, so der Tenor, wollen sie sich nun, da die UN-Konvention ratifiziert ist für verbesserte Bildungschancen hörgeschädigter Schüler einsetzen (wobei die bereits per Grundgesetz gewährleistet sein müssten, Anm. d. R.). Und Lehrer die „die Gebärde“ können seien natürlich wichtig, wiederholte sich Frau Stöppler. Viele Eltern wagten aber zu bezweifeln, ob damit die Deutsche Gebärdensprache gemeint war - oder doch wieder nur ein paar Brocken und das in LBG. Eine Lanze für die Wünsche der Eltern nach bilingualem Unterricht brach im Podium die gehörlose Pädagogin Sieglinde Lemcke, die mittlerweile an der Samuel Heinicke in Hamburg unterrichtet, eine der wenigen Schulen in Deutschland die diesen Weg bereits in weiten Teilen gehen. Relativ unbescholten blieb auch Dr. Thomas Weinmann vom Berufsbildungswerk für Hörgeschädigte, der Paulinenpflege in Winnenden. Einerseits weil dort dank privat-kirchlicher Trägerschaft mehr DGS-kompetente gehörlose Pädagogen arbeiten und andererseits, weil für die meisten Eltern die Schulfrage ein sehr viel akuteres Problem darstellt. Mit nach Hause bekamen die Schulleiter sehr passend Hausaufgaben: Einen großen Zettel zum Nachdenken mit den Wünschen und Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen zum Thema Inklusion. Und der liest sich so:
Mehr Gebärdensprache (DGS!!!) für Gehörlose,
hörende Lehrer und hörende Schüler
DGS als Unterrichtsfach (auch hier müssen z. B.
Grammatikregeln gelernt werden)
Mehr bilinguale Lehrer / mehr bilingualer Unterricht
Mehr gehörlose Lehrer Mehr Dolmetscher
Gehörlosenkultur als Fach, auch Geschichte der Gehörlosen
Aktionstage für den Austausch von Erfahrungen, Kultur
(im Rahmen von Workshops etc.)
Gleicher Unterrichtsinhalt für Gehörlose und Hörende
Die Lehrer müssen sich den individuellen Bedürfnissen
der Schüler anpassen (und auch Förderunterricht anbieten)
Gleichberechtigung, keine Diskriminierung
Mindestens 4 Gehörlose in einer Klasse
Respekt
Mehr gemeinsame Ausflüge um den sozialen Umgang zu fördern
Inklusion von Anfang an
Mehr Lichtsignale (für Pause, Notfälle etc.)
Lehrfilme mit Untertitel oder Dolmetscher
Die Kids hatten ihr „Positionspapier“ in einer Arbeitsgruppe gemeinsam erarbeitet. Es bleibt zu hoffen, dass es bei den Verantwortlichen zumindest als Denkanstoß funktioniert und vielleicht auch etwas bewirken kann.
Es gab sehr konstruktive Arbeitsgruppen - und die Arbeit soll noch besser werden!
Auch die Erwachsenen hatten wieder Zeit, in mehreren Arbeitsgruppen das Thema Inklusion und ihre Ausgestaltung zu diskutieren. So wurde überlegt, ob der Inklusionsgedanke (unabhängig vom Hörstatus des Kindes) überhaupt umsetzbar ist. Unter optimalen Voraussetzungen, so das Ergebnis, mag das funktionieren. Aber die Gefahr, dass die Kommunikationsbedürfnisse der Kinder nicht erfüllt werden, bleibt bestehen. Scheinintegration wäre die Folge. Die Arbeitsgruppe kam auch zu dem Schluss, dass den Hörgeschädigten-Schulen die Inklusion auf keinen Fall zuzutrauen ist, da sie schon den momentanen Anforderungen nicht gewachsen sind. Der Vorschlag lautete: ein völlig neues Konzept! Das Könnte so aussehen: Eine DGS-Schule pro Bundesland, die wie eine internationale Schule funktioniert: Der Unterricht wäre bilingual und auch für hörende, mehrfachbeeinträchtige und CODA-Kinder interessant. Nicht nur das: Die gegenseitige Akzeptanz und die soziale Kompetenz gestärkt. Kinder der 1. bis 4. Klasse könnten gemeinsam unterrichtet werden, wodurch die Klassengröße ansteigt. Eine schöne Idee! Egal wie die Fragestellung der Arbeitsgruppe lautete, die Ergebnisse, sprich die Wünsche der Eltern für ihre Kinder waren recht identisch.
Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen noch stärker zu diskutieren um anschließend konkrete Forderungen an Schulen und Politiker formulieren zu können, war der Wunsch vieler Eltern für die nächste Tagung. Kämpferlaune statt Resignation! Auch mehr Zeit für die Diskussionen nach Vorträgen wurde gewünscht. Aber auch ein stärkeres Aufeinanderzugehen von gehörlosen und hörenden Eltern, auch wenn es noch Sprachbarrieren gibt. All das zeigt, wie stark das Bedürfnis nach Austausch untereinander ist. Die Tankstelle, als die unsere Tagung vielfach zitiert wurde, oder besser gesagt ihre Zapfsäulen müssen also im nächsten Jahr noch einmal ordentlich befüllt werden, bevor es auf die Reise nach Duderstadt geht!
Alles in allem gab es viel Arbeit. Aber zur Belohnung ein wahnsinnig gutes und lustiges Kulturprogramm am letzten Abend, an dem alle, auch unsere großartige, fleißige und auf wundersame Weise irgendwie alles gleichzeitig machende Präsidentin Katja (das Lob muss sein an dieser Stellen, Anm. d. Red.) für alle Strapazen entlohnt wurde. Der Bericht hierzu folgt in Kürze.
Eine tolle Rund-um-Sorglos Kinder und Jugendbetreuung
Richtig Spaß hatten wie jedes Jahr die Kinder und Jugendlichen, um die sich praktisch von morgens bis abends ein großartiges Betreuerteam gekümmert hat. Kaum ein Kind, dass sich auf die Stühle im Tagungsraum verirrte. Und weil das Wetter so traumhaft war, konnten viele Ausflüge realisiert werden. Aber darüber berichten die Gruppen selbst: Berichte Unabhängig vom Spaßfaktor bieten die gemeinsamen Tage für die Kinder und Jugendlichen auch immer wieder die Möglichkeit, ihre Identität zu stärken. Und das ist viel mehr Wert als Spaß und Sonnenschein!
Unser öffentlicher Auftritt auf dem Universitätsplatz
Was den Kindern sehr viel Freude bereitet hat und so einige auch mit Stolz erfüllte, war ihr Theaterauftritt auf dem Universitätsplatz in der Heidelberger Innenstadt. Das Stück war selbst ausgedacht und handelte, auch passend zum Tagungsthema, von Schülern, die den strengen Lehrer doch noch überzeugen können, ihre Sprache, die Gebärdensprache zu akzeptieren. Der Lehrer unterrichtet dann tatsächlich in DGS und die Schüler lassen ihn hochleben. All das haben nicht nur Passanten zu sehen bekommen, auch das Fernsehen war da. Und die Kinder dann am Abend in den 18 Uhr-Nachrichten beim SWR. Beitrag Mit strahlenden Gesichtern verteilten sie innerhalb kürzester Zeit 500 Postkarten mit dem Fingeralphabet an die Menschen in der Fußgängerzone und lockten damit so einige an den Infostand des Bundeselternverbandes. Dort gab Gabriele Pfeiffer noch Mini-Crash Kurse in Gebärdensprache und faszinierte die Leute, indem sie mit ihnen über unsere tollen Dolmetscher Gunnar Lehmann und Dina Zander-Tabbert ins Gespräch kam. Die Nistors erzählten ein paar Gehörlosen-Witze, die ebenfalls übersetzt wurden. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir in diesem Jahr am Tagungsort ordentlich präsent waren und „wirklich zu Gast“, wie Katja Belz am Ende zufrieden, aber auch ganz schön erschöpft zu Protokoll gab.
Vielleicht war die Tagung eine Initialzündung zur Gründung eines badischen Landeselternverbandes?
Da viele Eltern aus Baden Württemberg die Chance genutzt hatten, als Tagesgast in die Verbandsarbeit hineinzuschnuppern bleibt zu hoffen, dass die Tagung auch eine Initialzündung zur Gründung eines badischen Landeselternverbandes gewesen sein kann. „Wir können als Bundeselternverband nicht in jedem einzelnen Bundesland kämpfen“, gab Katja Belz auch immer und immer wieder zu bedenken. Als Präsidentin hat sie natürlich noch andere Ziele als wir, die „nur“ Eltern und Mitglieder sind, aber diese Ziele sind in unserem Interesse: eine noch bessere Vernetzung mit Gehörlosen-Verbänden (z. B. aus Baden Württemberg). Und ein noch stärkeres Engagement der Eltern, ein Einmischen in die Politik . „Wir müssen noch sichtbarer werden!“ Dafür braucht es natürlich Kraft, und die gab es in diesem Jahr hoffentlich wieder in ausreichender Menge von der Tankstelle Tagung - damit die Eltern auch im Alltag noch die Auswirkungen spüren können - und den bis nächstes Jahr in Duderstadt mit der nötigen Energie meistern können.
Zum Schluss noch ein Aufruf an alle Eltern: Wenn Ihr uns bis Ende Juni eigene Berichte schickt- sehr gerne auch gebärdete (z. B. auf Youtube.com). setzen wir die ebenfalls auf unsere Homepage. Vielen Dank!!!
Fotos: Gabriel Nistor Text: Tamara Süß
Mehr Infos auf Bundeselternverband gehörloser Kinder e. V....